Blog: Wie man Agilität möglichst unagil einkauft

1,2 Millionen Euro Gesamtvolumen. Wow, da musste ich schon schlucken. Fast eine Woche hatte es gedauert, ein Konsortium aus erfahrenen Agilberatern, Agile Coaches und Organisationsentwicklern zusammenzubringen und ein Angebot für diese Ausschreibung zu erstellen: „Einführung Agil“. Jetzt war das Angebot fertig, und es war aufregend. Diesen Auftrag wollten wir unbedingt haben.

Kurze Zeit später wurden wir zu den Auswahlgesprächen eingeladen, in denen der Einkauf, die Personalabteilung und die Abteilung Projektmanagement darüber befanden, wer die 170 Teams auf das Agile Arbeiten vorbereiten und sie dabei begleiten sollte. Wir waren es jedenfalls nicht! Was war passiert?

Ich hatte einen Fehler gemacht. Die Ausschreibung war so formuliert worden, als hätte die ernsthafte Absicht bestanden, Agiles Arbeiten in der gesamten Organisation einzuführen. Im Team hatten wir dies so interpretiert, dass die dazu nötige Organisations- und Führungskräfteentwicklung geleistet werden sollte, obwohl dies im Ausschreibungstext nicht explizit erwähnt wurde. In den Gesprächen wiederum wurde, vor allem von den Vertreterinnen der Personalabteilung, stark darauf verwiesen, dass es „nur“ um eine Einführung in die Methode ginge. Der Einwand, dass eine Methodik alleine nicht nachhaltig wirken könne, wurde eher widerwillig geschluckt – die Stimmung war nachhaltig im Eimer. Die erhoffte Unterstützung durch das Projektmanagement blieb aus. Wir hatten vorgeschlagen, die Teams darauf vorzubereiten, dass die Organisation ihre neue Art zu arbeiten nicht sofort unterstützen könne – damit hatten wir uns jedoch selbst rausgekickt. Der Frust war entsprechend groß.

Der Auftrag ging an einen der jungen Wilden der Agile-Szene, der sich selbst sehr gut vermarkten konnte. Die Abwicklung der Beratung und der Teamcoachings wiederum gab er an noch jüngere Berater im eigenen Haus weiter, die bei den Kundenteams vehement auf die strikte Einhaltung der Methodenregeln drängten. Was sollten sie auch anderes machen, denn eigene Berufserfahrung war eher wenig vorhanden. Es kam, wie es kommen musste. Die in Agilen Methoden qualifizierten Teams erzielten sehr gute Anfangserfolge, die positive Energie ließ aber schnell wieder nach, als klar wurde, dass agile Teams alleine genau Null Agilität erzeugen können. Die im Agilen Arbeiten so wichtige End-to-End-Logik war mit punktueller Qualifizierung einfach nicht zu erzielen. So wie wir es prophezeit hatten.

Da ich bereits an anderer Stelle für das Unternehmen tätig war, konnte ich den gesamten Verlauf von der Außenlinie verfolgen, und das war kein Spaß. Da steht man, um zuzusehen, wie dieses Spiel aus dem Ruder läuft, ohne direkt eingreifen zu können. Man wird immer nervöser und noch viel frustrierter als nach dem Verlust des Auftrages. Es war doch so offensichtlich, wie es laufen müsste. Warum machten die das nicht?

Diese Situation unterstrich eine Erfahrung, die ich in meiner Beratungspraxis immer wieder gemacht hatte. Der Kern war wie so oft, dass die Aufträge in einem klassischen Organisationssetting nach den bestehenden Regeln vergeben wurden. Schon den Einkauf selbst von Agil-erfahrenen und -denkenden Menschen abwickeln zu lassen, wäre viel besser gewesen, aber: Eine Organisation, die sich dem Thema erstmals ernsthaft nähert, kommt nicht einmal auf diese Idee. Und so beauftragt sie Menschen mit der Auswahl, die keine eigene Vorstellung von Agilem Arbeiten oder gar Erfahrung damit besitzen. Wie sollen die Beteiligten also entscheiden können, was richtig und gut ist? Können sie nicht, und das wissen sie innerlich auch. Also werden die bestehenden Regeln und bekannten Muster bemüht und auf dieser Basis wird eine Entscheidung getroffen. Hier war es ein durchkonzipiertes Programm mit einheitlichem Curriculum und strikten Abläufen.

Eigenverantwortung der Teams? Null. Verschiedene Ansätze parallel ausprobieren, um Erfahrung zu sammeln und zu dokumentieren? Null. Schrittweise Beseitigung von Impediments und daraus folgende Organisationsentwicklung? Null. Einbindung der Führungskräfte in die Teams? Null. Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Und der Berater? Der sagte sich offensichtlich: „Wie bestellt, so geliefert.“ Kann man verstehen, auch wenn dies bedeutete, die eigenen Predigten zur Agilität zu ignorieren. Obwohl ich ihn verstehe, ärgere ich mich heute noch über den Kollegen. Als Berater müssten wir doch der Logik folgen, dass wir geholt werden, um dem Kunden an jenen Stellen zu helfen, an denen er keine eigene Expertise hat. Dazu gehört, in die Auseinandersetzung zu gehen und die eigene Expertise aktiv einzubringen. Auch im Konflikt – natürlich konstruktiv und respektvoll – mit dem Kunden. Wer hier kneift, macht in meinen Augen seinen Job nicht.

Nach einiger Zeit reifte im Unternehmen die Erkenntnis, dass der eingeschlagene Weg nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte. Wir wurden angefragt, ob wir uns der schlimmsten Fälle annehmen könnten. Ich habe abgelehnt. Vielleicht war es verletzter Stolz (die Trekkies unter uns würden Sternenflottenvorschrift 619 zitieren). Die offizielle Begründung ist aber, dass ich keine Lust habe, als Reparaturmechaniker eingesetzt zu werden. Wir wollen Unternehmen unterstützen, die eine Agile Transformation vom Ende her denken, sich auf die Agilen Prinzipien einlassen und uns Experten vertrauen. Diese Haltung ist betriebswirtschaftlich heikel, aber zumindest bleiben wir integer.

Wie kann es besser laufen? Wie wäre es mit einem langsamen Herantasten an eine Agile Arbeitsorganisation? So hätte ich es gerne gemacht. Dieses Vorgehen ist vor allem dann sinnvoll, wenn den Entscheidern klar ist, was Agilität für das Unternehmen bedeutet: eine komplett neue Art zu arbeiten und zu denken. Die Mitarbeiter würden die nötige Zeit bekommen, um sich daran zu gewöhnen, sie würden die Vorteile im Alltag erleben und möglichst früh in die Eigenverantwortung kommen. Gestartet wird mit einem kleinen Pilotprojekt, dann wird nach und nach (aber sehr zügig) auf den Rest der Organisation skaliert. Auch hier ist es die nötige Organisationsentwicklung, vor der sich viele scheuen. Denn in diesem Punkt bestehen offensichtlich die größten Konflikt- und Fehlerpotenziale – es ist hier also die meiste Arbeit zu leisten. Dabei kann die Agile Arbeitsorganisation übrigens sehr helfen: Wenn die von einem Team identifizierten Hindernisse systematisch ausgewertet und genutzt werden, kann eine Organisation entstehen, die Agilität unterstützt. Auf diese Weise erarbeitet sich die Organisation nach und nach jene Handlungsfähigkeit, um die es am Ende ja geht. Also los, so machen wir es!

 

Der Kontext zum Text: Geschichten transportieren mehr als nur Wissen. Sie berühren, inspirieren, schaffen Nähe und ein Gespür für andere Menschen. Geschichten zeigen etwas von uns selbst und werden so zur Hilfe, wenn wir uns in ähnlichen Situationen befinden.

In dem Buch „Agile Short Stories“ teilen 45 Autorinnen und Autoren ihre Erlebnisse aus der Welt der Agilität. Es sind erfahrene Product Owner, Scrum Master, Führungskräfte, Agile Coaches, Berater und Organisationsentwickler. Sie erzählen wahre Geschichten aus ihrem Arbeitsalltag und ihrem persönlichen Leben: über die ersten Schritte und Spannungen in Teams, förderliche und hinderliche Führung, Verluste und Ängste, erstaunliche Entwicklungen, klare Werte und Haltungen. Diese Geschichten machen das Angebot, als Menschen voneinander zu lernen. Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie Flying Hope e.V.

 

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