Die Agile Verpflegungsstelle

Der Start eines großen Amateur-Radrennens. Es ist noch früh am Morgen, alle sind nervös und der Kenner sieht an den Rädern und Trikots, wie viel Enthusiasmus die Mehrheit in diesen Sport steckt. Alle wollen erfolgreich sein und dafür ihr Bestes geben. Der Startschuss fällt und das Peloton rast los, dem fernen Ziel entgegen.

So ähnlich verhält es sich auch mit vielen Themen, die in der Wirtschaft diskutiert werden. Insbesondere bei den „neuen“ Methoden und den „absolut unverzichtbaren Erfolgsfaktoren“ scheinen nahezu alle Beratungen, ex-Führungskräfte und Journalisten zeigen zu müssen, wie viel sie den Entscheidern in den Unternehmen zu sagen haben. Alle werfen sich ein schickes Trikot über, polieren ihre Rennmaschine und reihen sich ins Peloton ein.

Unabhängig davon, dass die Zielgruppe, gewissermaßen die Zuschauer an der Strecke, oft gar nicht zuhören (Radrennen starten traditionell sehr früh morgens und Unternehmen erschließen sich die neuen Themen eher langsam), verwenden die echten Rennfahrer viel Energie darauf, die „Lutscher“ möglichst früh abzuhängen. Die weniger erfahrenen Fahrer sind einfach ein zu großes Risiko, da ihnen wesentliche Fähigkeiten, im dichten Peloton zu fahren, fehlen. Also wird Gas gegeben.

Bei den relevanten Businessthemen bilden sich Communities, die aktiv an ihrem Thema arbeiten. Diese differenzieren sich schnell aus, es bilden sich einzelne Teams, die gut zusammenarbeiten und sich gegenseitig Windschatten geben. Gleichzeitig entstehen Rivalitäten zwischen den Teams. Im Agilen sind dies beispielsweise die Teams „Mindset“, Organisation“ oder „Führungskräfte weg“. Positionskämpfe und Abkapselung entstehen, Ausreissergruppen versuchen weg zu kommen und das große Feld versucht, die Ausreißer wieder einzufangen.

Der Knackpunkt ist, dass sich Fahrer und Zuschauer immer weiter voneinander entfernen. Wer am Rande eines Radrennens steht und kein Spezialist ist, wird kaum erkennen, was im Feld alles passiert und wie hoch spannend dies ist. Und überhaupt, ein Peloton ist in wenigen Sekunden an einem Zuschauer vorbeigefahren. Diejenigen, die eigentlich viel Spaß an diesem Sport haben sollten bleiben außen vor. Genauso in der Agilen Bewegung. Die Mitarbeiter und Führungskräfte in den Unternehmen haben sehr wenig Zugang zum Thema, verstehen kaum, was im vorbeirauschenden Feld passiert und sind daher oft auch gar nicht interessiert. Sie stehen quasi mit ihren Autos an der gesperrten Strecke und ärgern sich darüber, sich den agilen Radfahrern unterordnen zu müssen.

Wie im Radrennen sind auch bei neuen Themen nur wenige Stellen, an denen Zuschauer ausreichend Zugang und Gelegenheit hat, sich mit dem Geschehen auseinanderzusetzen. Dies ist vor allem der Start, wenn sich die Fahrer aufstellen, noch miteinander reden und alles den Startschuss entgegenfiebert. In der Agilen Welt ist der Startschuss schon längst erfolgt, diese Chance besteht nicht mehr. Im Radrennen bleibt noch das Ziel, wo die Stimmung besonders hochkocht, da es um Gewinner und Verlierer geht. Im Agilen gibt es leider kein Ziel, denn im Gegensatz zum Radrennen ist Agil ein infiniter Prozess, d.h. es hört nie auf und die Teilnehmer entwickeln sich stets weiter.

Dann bleiben noch zwei andere Stellen: Der Berg und die Verpflegungsstelle. Am Berg wird ein Radrennen aus rein physikalischen Gründen langsam. Die Fahrer quälen sich die Steigungen hoch und für die Zuschauer ist dies ein idealer Ort, das Geschehen intensiv zu erleben. Im Agilen türmen sich gerade auch viele Berge auf, denn nach der Euphorie der ersten Jahre werden nun die ganzen Schwierigkeiten offensichtlich, die sich aus den organisatorischen Rahmenbedingungen, sozialen Prozessen usw. ergeben. In der Agilen Community werden die Berge der aufgetretenen Schwierigkeiten als „Fuck-Up-Nights“ zelebriert und hier besteht auch für die Zuschauer eine gute Gelegenheit, sich in Ruhe mit dem „Rennen“ auseinanderzusetzen. Man muss ja nicht immer mit den schönen Teilen beginnen. Was Agil wirklich bedeutet erkennt man oft erst am Berg.

Eine ähnliche Logik „Lernen aus den Schwierigkeiten“ kann auch für die andere Situation in einem Rennen gelten: Die Verpflegungsstelle! Wer sich auf ein Rennen einlässt verbrennt sehr viel Energie, die immer wieder nachgeführt werden muss. Im Radrennen sind dies Wasser und Energie, die von Profis in genau der richtigen Menge mitgeführt werden oder an geeigneten Stellen von Helfern angereicht werden. Für die Amateure dagegen werden Verpflegungsstellen eingerichtet.

An der Verpflegungsstelle in einem Radrennen zeigt sich, wer in die Kategorie der Könner und wer in die Kategorie der Ambitionierten gehört. Während die Könner bestens trainiert sind, ihre Leistungsfähigkeit über den gesamten Rennverlauf geplant haben und entsprechend versorgt sind, benötigen die Ambitionierten Energienachschub und vielleicht auch eine kurze Pause vom Dauerstress des Fahrens im Peloton. Sie können ihre Leistung noch nicht ausreichend auf die Rennsituation abstimmen.

Im Agilen Arbeiten braucht man ebenfalls Nachschub an Wasser und Energie, in Form neuer Erkenntnisse und Projekte für die agilen Teams. Agiles Arbeiten an sich ist ein permanenter Lernprozess und der Austausch und die Nutzung bereits gemachter Erfahrungen sind ein wichtiger Antrieb, es selber besser zu machen. Die richtigen Projekte stehen für die Anwendung Agiler Arbeit. Diese ist exzellent geeignet, wenn es um die Steuerung von Kopfarbeit geht und komplexe Themen bearbeitet werden. Setzt man Agilität dagegen auf Anwendungsfälle an, für die es nicht geeignet ist, dann schicken Sie quasi den Rennradfahrer ins Gelände. Geht, man kommt aber nur sehr schwer voran und das Risiko technischer Defekte steigt extrem an.

Neben der Frage, wo welches Rad (oder Methodik) am besten eingesetzt wird, ist auch die Teamzusammenstellung wichtig. Daher ein kurzer Blick auf Typen, denen man begegnen kann.

Agile Poser: Im Radrennen sind die Poser schnell zu erkennen: Das neueste Radmodell mit allem Schnick und Schnack und natürlich das Trikot eines Profiteams. Auf dem Rad lässt die Motorik allerdings schnell erkennen, dass es mit den Trainingskilometern nicht so weit her ist und der schöne Schein zerbröselt spätestens an der ersten Steigung. Nicht nur deswegen ist eine eherne Könner-Regel: Zieh Dich nicht schneller an als Du fährst! Auch in der Agilen Community gibt es so manchen Poser, die oft an mono-Thematik („Agil muss beim Mindset beginnen“) oder Dogmatismus („alle Unternehmen müssen agil werden“) zu erkennen sind. Werden konkrete Herausforderungen in Unternehmen diskutiert, zerbröseln diese Thesen sehr schnell am Berg des realen Kontextes.

Agile Netzwerker: Im Renngeschehen fallen die Netzwerker sofort auf. Es sind diejenigen, die verstanden haben, dass Radfahren ein Mannschaftssport ist. Es haben sich Teams gefunden, in denen jeder nach seinen individuellen Stärken zum Erfolg des Teams beiträgt. So entsteht eine starke Einheit, die auch auf die vielen Unwägbarkeiten eines Rennens flexibel reagieren kann. Agil, wie es sein sollte! Die entsprechenden Agilen Teams sind schwer zu finden (die flitzen quasi an uns vorbei) und die agilen Anfänger sollten sich gut überlegen, wo sie zu finden sind. Das Stichwort ist hier „Netzwerker“. Wer sich aktiv in die Agile Community begibt und ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, findet auch Zugang zu den echten Teams. Darauf kommen wir noch zurück.

Aber zurück zur Verpflegungsstelle. Für die Erfahrenen ist die Verpflegungsstelle ein irrelevanter Bestandteil des Ganzen, während die Anfänger daraus einen echten Nutzen für sich ziehen. Der Anfänger kann sich hier orientieren und kurz erholen, die Zuschauer können sich hier die Motivation holen, es selber einmal zu probieren und im nächsten Rennen mitzufahren. Falls Sie sich also bisher noch nicht mit Agilität auseinandergesetzt haben, könnten die „Agilen Verpflegungsstellen“ gute Gelegenheiten sein, sich ein erstes Bild davon zu machen, worum es in diesem „Sport“ geht und warum darum so ein Hype gemacht wird. Die Agile Verpflegungsstelle kann Antworten auf typische Fragen wie die folgenden liefern:

–        Was ist Agil? Wie sieht das aus? Was gehört dazu?

–        Warum muss ich mich mit Agil auseinandersetzen?

–        Was sind die wesentlichen Wirkmechanismen, welche Pannen treten auf?

–        Was sollte ich tun, um dabei sein zu können?

Wo finde ich eine „Agile Verpflegungsstelle“ und die Agilen Netzwerker? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, da die für Sie richtige Stelle von Ihrem Kontext abhängt. Es gibt allerdings ein paar Tipps, wo Sie anfangen können.

1.     Spezialisierte Konferenzen und Veranstaltungen, wie die Manage Agile (https://www.manage-agile.de/) oder Agile-beyond-IT (https://www.agile-beyond-it.de/) (beide HLMC) können

Tipp: Achten Sie auf die „Historie“ des Veranstalters. Wer sich schon lange aktiv für das Agile Netzwerk einsetzt, wird auch gute Veranstaltungen anbieten und die echte Agile Community ansprechen. Verlage und Beratungen, die eigentlich für andere Themen stehen und irgendwann nachgezogen sind dagegen…

2.     Spezialisierte Hochschulvertreter der Fachgruppen in Fachverbänden. Prof. Komus an der Hochschule Koblenz (https://www.komus.de/) ist ein sehr aktiver Part der Agilen Community und seine jährlichen Studien geben einen guten Überblick über den Stand Agilen Arbeitens in den Unternehmen.

Tipp: Agil verändert sich sehr schnell, was es für eher behäbig agierende Organisationen schwer macht, am Geschehen dran zu bleiben. Hier werden Sie also eher mit anderen Anfängern und Nachzüglern zusammenkommen.

3.     Lokale Agile Communities. Das wahre Agile Netzwerk tobt in den vielen lokalen Meetups und ähnlichen Formaten. Hier treffen sich die Praktiker und auch die Anfänger sind meist willkommen. Suchen Sie doch einmal nach Veranstaltungen an Ihrem Standort (http://agile.events/), dem nächsten Agile Talk (https://agiletalks.de/) oder Ähnlichem. In diese Gruppe gehört auch unser Agile Coffee Club, ein themenoffener Austausch für Agilpraktiker und Interessierte. Den nächsten Termin finden Sie im Internet oder auf Anfrage: fe@mentus.de.

Egal, wo Sie für sich den Ansatz sehen, entscheidend ist hinzugehen und sich ins Abenteuer Agil zu stürzen. Nur wer mitfährt kann auch ankommen. Dann gilt: Et kütt wi et kütt!

 

Sie haben konkrete Fragen? Schreiben Sie mir gerne eine Mail: fe@mentus.de