Entscheiden in kritischen Situationen – vorbereitet sein auf das Unbekannte.

Kennen Sie die Situation, einer Gruppe eine Frage gestellt zu haben und dann nur in verwirrte Gesichter zu blicken? Dies erlebe ich fast immer, wenn ich Führungskräften die Frage stelle: Wie viele Entscheidungen treffen Sie an einem durchschnittlichen Tag?

Können Sie diese Frage sofort beantworten? Haben Sie überhaupt schon einmal reflektiert, wie viele Entscheidungen es sind, die wir täglich treffen?

 

Die genaue Zahl ist mir dabei egal. Was ich erreichen möchte, ist die angesprochene Reflexion. Diese wird schnell in eine Diskussion zu folgenden Fragen führen:

  • Was ist überhaupt eine Entscheidung?
  • Welche Arten von Entscheidungen gibt es?
  • Wann werden Entscheidungen wirklich relevant?
  • Was macht gute/schlechte Entscheidungen aus?
  • Wie kann ich die Qualität meiner Entscheidungen verbessern?

 

Persönliche Entscheidungen (Folge ich dem Lockruf des Kühlschranks oder dem Warnruf der Waage?) und die Entscheidungen des täglichen Allerleis lassen wir jetzt mal beiseite und konzentrieren uns auf Entscheidungen, die Führungskräfte im Berufsalltag treffen. Man muss nicht lange nachdenken, um zu erkennen, dass Entscheiden zu den wichtigsten Aufgaben der Führung gehört. Es lohnt also, das eigene Entscheidungsverhalten zu überdenken und die eigene Entscheidungskompetenz auszubauen.

 

„Jede Entscheidung, die ich treffe, ist eine Wette auf die Zukunft!“ Top-Manager eines Großunternehmens

 

Das Zitat zeigt schön, was alles mit Entscheidungen verbunden sein kann. Wetten (Entscheidungen),

  • sind emotional, da Unsicherheit und Hoffnung gleichermaßen berechtigt sind und daraus je nach persönlicher Disposition Angst, Orientierungslosigkeit, Überschätzung etc. resultieren werden
  • sind durch unzureichende Informationen gekennzeichnet, man muss Annahmen treffen
  • basieren oft auf Widersprüchen, Engpässen (nicht nur bei den Informationen) und
  • stellen ein Risiko (und damit eine Chance) für die eigene Rolle/Karriere dar

 

Für gute Entscheidungen gilt es somit im ersten Schritt zwischen der Sachlage und der persönlichen Reaktion darauf zu unterschieden. Anders und für den Extremfall einer Krise formuliert: Eine Krise findet nur in mir statt, drumherum existiert eine Lage. Diese Haltung ist bereits der erste Schritt hin zu mehr Handlungsfähigkeit.

 

Praxistipp für den ersten Schritt der Lagebeurteilung: Überdenken, was Sache – Interpretation -Bewertung ist. Menschen neigen dazu, die drei Schritte sehr schnell zu durchlaufen und sich in der Folge schnell vom Sachverhalt weg, hin zu Emotionen zu bewegen. Häufige Reflexion dazu, wo ich mich gerade in der Abfolge befinde, trainiert die Fähigkeit, analytischer und sachlicher zu werden. Für gute Entscheidungen ist dies eine hilfreiche Grundlage.

 

Wenn ich mir als Entscheider klar geworden bin, dass es Sinn macht, die eigene Emotionalität zugunsten der Fakten abzuwägen, gewinne ich ein Stück Handlungsfähigkeit. Einfacher wird Entscheiden dadurch jedoch nur teilweise.  Um zu einer guten unternehmerischen Entscheidung zu kommen, wird sich ein Entscheider weitere Faktoren ansehen müssen:

  • Art der Konsequenzen meiner Entscheidung (Kundenbeziehung, Reputation, Gesundheit, Technik, Marktanteil, …)
  • Intensität der Folgen (niedrig bis hoch)
  • Geschwindigkeit in der eine Wirkung einsetzt (schleichende oder plötzliche Veränderung) und deren Dauer (kurz bis lang andauernd)
  • Wahrscheinlichkeit der Wirkung und
  • Risiken und Nebenwirkungen

 

In dieser Aufstellung zeigt sich, dass es Best-Practices oder einen einheitlichen Vorgehensstandard sehr selten geben kann. Je nach Lage und den Antworten auf die entsprechenden Fragen wird erneut klar, dass die meisten Menschen tendenziell emotional reagieren. Gerade in Situationen mit wenig Informationen, hohen Risken und Zeitdruck ist allzu oft ein Flight-or-fight-Verhalten zu beobachten. Typische Reaktionen sind: Sofort aber mit Nachdruck entscheiden, auf Standards und Regeln verweisen oder noch viel Information nachfordern, die dann in endlosen Meetings zerredet wird. Das sollte uns nicht passieren.

 

Wollen wir unsere Entscheidungsfähigkeit verbessern, lohnt es sich, Erfahrungen anzusehen, die Branchen und Organisationen gesammelt und in ihre Organisation integriert haben, in denen Entscheidungen besonders weitreichende bzw. bedrohliche Konsequenzen haben können. Denken wir z.B. an die Chemische Industrie oder die Luftfahrt, wo Betriebsunfälle oder großflächige Kontaminationen auftreten können.

 

Betrachten wir exemplarisch die Abläufe in einem Flugzeugcockpit, denn hier spielt ein typisches Problem in Krisensituationen, Entscheiden unter Stress, eine besondere Rolle. Unter Stress fällt Menschen eine Entscheidung generell schwerer, als es dies schon im Alltag der Fall ist. Als hemmend für Entscheidungen können mehrere Faktoren wirken: Fehlende Informationen, Statusverlust, Risikovermeidung, Interessen- und Zielkonflikte, Angst vor Fehlern. Je nach Persönlichkeitspräferenzen werden sich diese und weitere Faktoren unterschiedlich auswirken und gleichzeitig drängt die Zeit.

 

Entscheidungsschwäche ist gerade in Akutsituationen ein gefährliches Defizit!

 

In der Luftfahrt werden Piloten explizit darauf trainiert, auch in schwierigen Situationen schnell gute Entscheidungen zu treffen und diese professionell umzusetzen. Der wichtigste Faktor ist sicher eine umfassende Qualifizierung und häufige Simulation aber es gibt auch ein Vorgehen, dass jeder von uns nutzen kann: FOR-DEC. Das Modell hilft Entscheidungen zu treffen, wenn nur wenige Informationen verfügbar sind oder die Konsequenzen von Optionen nicht bekannt sein können.

 

Das Akronym FOR-DEC steht für:

F acts – Worum geht es eigentlich? Faktensammlung.

O ptions – Welche Möglichkeiten haben wir? Wertfreie Abwägung.

R isks & Benefits – Wie wahrscheinlich werden welche Folgen eintreten? Erfolgsabschätzung.

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D ecision – Entscheidung treffen

E xecution – Koordinierte Umsetzung

C heck – Was können wir aus dem realen Geschehen lernen?

 

Die Trennung von FOR und DEC zeigt, dass die Situationsanalyse genauso wichtig ist, wie die Entscheidung selbst und die anschließende Umsetzung. Durch das griffige Akronym wird erreicht, dass in Entscheidungssituationen nicht vorschnell auf die erstbeste Lösung gesetzt wird, sondern erst die Zeit genommen wird, Analyse, alternative Erklärungsmodelle und mögliche Optionen zu durchdenken. Bei guter Qualifizierung und solider Erfahrung kann FOR-DEC sehr schnell durchlaufen werden. Die resultierende Entscheidung wird somit schnell und hochwertig ausfallen.

 

Ein plastisches Beispiel dafür, wie das Vorgehen in einer gefährlichen Situation aussehen kann, zeigt dieses Video aus dem Cockpit (Simulator): LINK

 

Die Führung eines Unternehmens in einer Krisensituation unterscheidet sich natürlich stark von der eher überschaubaren Situation in einem Cockpit. Die Art der potenziellen Krisen ist vielfältiger, sehr unterschiedliche Konsequenzen sind denkbar und gerade die sozialen Prozesse in Krisenzeiten sind extrem schwer vorhersehbar. Da helfen Checklisten und Standardprozeduren nur eingeschränkt weiter. Unternehmen sollten daher stets in der Lage sein, folgende Fragen zu beantworten:

  • Wie genau sind wir auf (welche) schwerwiegende Risiken vorbereitet?
  • Wie können wir das Entstehen einer Lage (Krise) frühzeitig erkennen?
  • Wie gehen wir in einer Krisensituation vor?
  • Wie stellen wir Handlungsfähigkeit auf individueller Ebene und auf Organisationsebene sicher?

Es geht also um die Identifikation und ggf. Abwehr von Risiken einerseits und dem Vorgehen in einer Krise andererseits.

 

Egal, welche Antworten auf die vier Fragen in einem Unternehmen gefunden werden, wird ein Aspekt immer eine ganz zentrale Rolle spielen: Lernen! Die Fähigkeit, Risiken zu prognostizieren und adäquat zu handeln, wird immer einen starken Qualifikations- und Übungsanteil haben. Der richtige Zeitpunkt, die eigene Krisenresistenz zu prüfen und weiter zu entwickeln ist: Immer!

 

Der Nichtschwimmer kann den Ertrinkenden nicht retten!

 

Worauf ist in der Vorbereitung auf Krisen also zu achten?

  1. Intensive Ausbildung und ggf. Zertifizierung des Personals und der Führungskräfte
  2. Simulationen in wiederkehrenden Abständen und Rezertifizierung
  3. Umfassende Informationen und Kommunikation (Technik, Vorgehen, Kompetenz)
  4. Checklisten und Standardabläufe für die standardisierbaren Anteile potenzieller Krisenszenarien

 

Wenn wir die vier Punkte mit der üblichen Personal- und Führungskräfteentwicklung vergleichen, wird offensichtlich, dass zumindest der Aspekt der wiederkehrenden, verpflichtenden Simulationen meist komplett fehlt. Auch bei den Vorgehensstandards dürften die meisten Unternehmen einigen Nachholbedarf haben.

 

Was wir jetzt konkret tun können, um für zukünftige Schwierigkeiten besser gerüstet zu sein. Hier ein paar Vorschläge, die selbstverständlich nicht vollständig sein können.

 

Reviews und Retrospektiven (Facts, Check)

Nach der Krise ist vor der Krise! Reviews und Retrospektiven, d.h. das permanente Lernen aus unserem Vorgehen und einzelnen Events gehört bei krisenresistenten Unternehmen zum Alltag. Mit Alltag ist gemeint, dass diese Lernformate häufig eingesetzt werden und nicht nur in Ausnahmefällen. In der aktuellen Corona-Situation kann dies konkret bedeuten: Sobald der Betrieb wieder hochgefahren wird, zuerst eine Retrospektive durchführen und die Erfahrungen mit der Ausnahmesituation sichern. Daraus werden verbesserte Prozesse etc. für die Zukunft abgeleitet. Dies für ganze Teams und Bereiche aber auch für einzelne Themen. Beispielsweise sind aktuell sehr viele Menschen zwangsweise ins Home-Office verbannt worden. Diese Erfahrung sollte aufgearbeitet werden, um die zukünftige Handhabung des Home-Office möglichst optimal zu gestalten. Mehr echte und relevante Erfahrung als aktuell werden wir (hoffentlich) so schnell nicht wiederbekommen. Gleiches gilt auch für die Überprüfung der Prozesse, die unsere (Zusammen)Arbeit regeln, die Grundlagen der Arbeitsorganisation und die Leistung/Professionalität der Führungskräfte. Wie Review/Retrospektiven ablaufen können, ist z.B. hier beschrieben: https://retromat.org/

 

Neuausrichtung der Strategie (Options, Risks & Benefits)

Durch die massiven wirtschaftlichen Einbußen werden sich viele Unternehmen strategisch neu aufstellen. Hier besteht die Chance ein selten eingesetztes Format auszuprobieren: Red Teaming. Das Konzept des Red Team stammt aus dem Militär und dient dazu, Schwachstellen zu identifizieren und Strategien zu optimieren. Dazu nimmt ein Red Team die Position des Gegners (Wettbewerb, Umstände, …) ein und versucht bewusst eine Strategieentscheidung oder einen Vorgehensplan zu unterlaufen. So werden Schwachstellen und viele unberücksichtigte Faktoren offenbar und können in die Strategie noch eingebaut werden Die Entscheidungsqualität steigt signifikant an.

 

Agiles Arbeiten flächendeckend ermöglichen (Execution)

Krisen sind immer Zeiten, in denen Komplexität, Chaos und Unklarheiten besonders groß sind. Die aktuell bewährteste Form, Arbeit in solch schwierigem Umfeld zu organisieren und dabei möglichst effizient zu sein, ist das Agile Arbeiten. Durch parallele Experimente, schnelles, iteratives Vorgehen und häufige Lernschleifen kann sehr schnell und ressourcenschonend herausgefunden werden, wie am besten vorzugehen ist. Selbst wenn Agiles Arbeiten in einem Organisationsbereich im operativen Alltag nicht sinnvoll ist, sollten Teile der entsprechenden Teams entsprechend qualifiziert sein, um in einem Krisenfall handlungsfähig zu sein.

 

Aufbau einer umfassenden Toolbox (Execution)

Egal ob Krise oder nicht, eine der wichtigsten Aufgaben der Personal- und Führungskräfteentwicklung wird für die nächsten Jahre sein, eine umfassende „Toolbox“ (Instrumente, Methoden, Formate etc.) für selbstgesteuertes, individualisiertes und situatives Lernen aufzubauen. Nur wenn die Belegschaft Lernen als selbstverständlich ansieht und passende Ressourcen zur Verfügung stehen, werden die Unternehmen ausreichend schnell das vorhandene Potenzial heben können. Wer langsamer lernt als der Wettbewerb, ist als Erstes vom Markt verschwunden.

 

Der letzte Punkt bietet sich – neben den Retrospektiven/Reviews als erste Aufgabe an, da der Bedarf für nachhaltig erfolgreiches Lernen überall und auch im Alltag steigt. So kann der Start sein, den Mitarbeitern eine Lernkompetenzanalyse anzubieten und auf Basis der aggregierten Erkenntnisse eine Lernstrategie zu implementieren. Mit jedem Schritt steigt dann auch die Fähigkeit des Unternehmens, in Krisen schnell und adäquat zu agieren. Ganz im Sinne Agilen Arbeitens: Früh und mit Prototypen beginnen und dann in kurzen Iterationszyklen auf die gesamte Organisation skalieren.

 

 

Literatur und Lesetipps:

Lernkompetenzen und deren Analyse: www.lekaf.de

Buch: Agiles Lernen – Neue Rollen, Kompetenzen und Methoden im Unternehmenskontext https://shop.haufe.de/prod/agiles-lernen

Buch: Red Team – How to succeed by thinking like the enemy https://www.goodreads.com/book/show/25159034-red-team

Buch: Schnelleinstieg Agiles Personalmanagement https://shop.haufe.de/prod/crashkurs-agiles-personalmanagement-inkl-arbeitshilfen-online

Case: Agile Führungskräfteentwicklung http://mentus.de/agilefk/

Beispiele für Agile Lernformate: Agile learning Designs for an Agile world – Using Agile values and principles to handle complex learning topics http://mentus.de/wp-content/uploads/2019/09/paperdubai2019edelkraut-190302150440.pdf

Qualifizierung zum Agilen Lerncoach: http://mentus.de/weiterbildung-zum-agilen-lerncoach/

 

 

Sie haben konkrete Fragen? Schreiben Sie mir gerne eine Mail: fe@mentus.de

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