Mentoring – Antik, Agil oder beides?
„Mentor mein alter Freund“, sagte Odysseus, „ich muss in den Krieg ziehen und Telemach mein Sohn ist noch nicht bereit, an meiner Stelle als König zu regieren. Sei ihm ein guter Berater und hilf ihm alles zu lernen, was ein guter König braucht.“ Seitdem Odysseus in den trojanischen Krieg zog und ganz nebenbei das Mentoring erfunden hat, sind etliche Jahrhunderte ins Land gegangen und die Welt hat sich massiv verändert. Mentoring gehört jedoch noch immer zu den wirksamsten Methoden der Entwicklung persönlicher und fachlicher Kompetenzen und in die Toolbox jeder professionellen Personalentwicklung.
Schauen wir in die Zukunft zeichnen sich auch weiterhin vielfältige Veränderungen ab und man kann zurecht die Frage stellen, ob und wann die Zeit des Mentoring abläuft. Ist eine intensive, aufwändige auf eine Person bezogene Lernbeziehung noch zeitgemäß? Ist sie noch schnell genug, um in der veränderlichen modernen Welt eine ausreichende Lerngeschwindigkeit zu erlauben?
Gerade die Frage der Lerngeschwindigkeit ist eines der vielen Dilemmata, denen sich die professionelle Personalentwicklung gegenübersieht. Wie schnell gelernt werden muss, ergibt sich zu einem erheblichen Teil aus der Veränderungsgeschwindigkeit der Wirtschaft und diese ist gerade in den nächsten Jahren massiv angestiegen. Lernen muss aus Sicht des Business immer schneller erfolgen, die Time-to-Skill ist der zentrale KPI modernen Lernens geworden.
Eine Reaktion auf die Forderung von schnellerem Lernen ist die Bereitstellung bzw. intensivere Nutzung von Kurzformaten, etwa eLearnings, Videotutorials, Learning Nuggets, Nudges usw. Diese modernen Kurzformate helfen sehr, Lernen besser in den Arbeitsalltag zu integrieren und schnelle Lösungen bei akut auftretenden Fragen zu liefern oder Lernstrategien zu unterstützen, die auf häufige, kleine Lernfortschritte setzen. Stehen dagegen eine Kompetenzentwicklung und Vorbereitung auf besonders komplexe Herausforderungen im Fokus, braucht es andere Formen des Lernens.
Um die Geschwindigkeit einer Kompetenzentwicklung zu steigern, wird stark auf individualisiertes Lernen, hohe Intensität und eine stringente Organisation des Lernprozesses zu setzen sein. Alle Drei sind wichtig, denn die Dauer eines Lernprozesses hängt von der Zeit für den eigentlichen Lernaufwand und der Zeit zwischen den Lernereignissen ab. Lernen sollte daher analog zu Agiler Arbeit gedacht und organisiert werden.
Die Dauer eines Arbeitsprozesses hängt von der Summe aus Touch Time und Wait Time ab, d.h. der Zeit, in der aktiv an der Realisierung des Ergebnisses gearbeitet wird und der Zeit in der „Zwischenergebnisse“ herumliegen und darauf warten, dass der nächste Arbeitsschritt erfolgt. Ähnlich ist es im Lernen, wo Zeiten des eigentlichen Lernens durch Phasen ohne Auseinandersetzung mit dem Lernthema unterbrochen sind
Die Analogie von Lernen als Arbeitsprozess zeigt, wie Lerngeschwindigkeit gesteigert werden kann. Es gilt, vor allem die Wait Time zu reduzieren. Dazu muss in den meisten Unternehmen erst einmal analysiert werden, wie die Lernprozesse der Mitarbeiter überhaupt gestaltet sind und wo Wait Time auftritt. Aber dies ist ein anderes Thema, wir wollen ja das Mentoring betrachten.
Mentoring ist ein Lernformat, dass auf die intensive Beziehung von Mentor und Mentee setzt und auf die individuellen Bedürfnisse des Mentee fokussiert. Es wirkt sowohl bei der Lernzeit selbst als auch der Wait Time! Um dies nachzuvollziehen, müssen wir uns klarmachen, dass die regelmäßigen Treffen in denen Mentor und Mentee an einem vom Mentee gewählten Entwicklungsthema arbeiten nur ein Element des Mentoringprozesses sind. In den Treffen geht es um Reflexion, die Entwicklung von Handlungsoptionen, des Ausprobierens und der Vorbereitung auf die Umsetzung im Arbeitsalltag. Im Arbeitsalltag wird der Mentee dann entsprechend agieren und hier findet die eigentliche Kompetenzentwicklung statt. Mentoring ist also kein Selbstzweck, sondern hilft das alltägliche Handeln zu professionalisieren. Der zentrale Entwicklungsprozess findet zwischen den Treffen der Tandems statt!
Mit dieser Klarstellung und dem erneuten Blick auf die Wirkung von Lernmaßnahmen wird klar, dass Mentoring aktuell unverzichtbar ist. Mentoring spielt sogar eine zunehmend wichtige Rolle, wenn es um Lernprozesse mit einer hohen Komplexität (im Thema oder dem Lernprozess), wie etwa einer Agilen Transformation, geht. Komplexität erkennbar (worum geht es hier?) und handhabbar (wie kann ich agieren?) machen, gelingt mit einem Mentor deutlich schneller, da Mentoren über deutlich mehr Erfahrung verfügen und Systeme schneller erfassen und aus einem breiteren Fundus aus Methoden und Handlungsoptionen schöpfen können. Als die Mentee. Der Mentor sorgt dafür, dass der Mentee bewusstere (Gespräch, Reflexion, Alternativen prüfen, usw.) Entscheidungen trifft und mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Lage ist, diese erfolgreich umzusetzen.
Auch die Mentoren selbst erleben einen analogen Vorteil. Durch die regelmäßigen Treffen mit den Mentees sind sie gezwungen, sich immer wieder mit neuen Entwicklungen, Ideen, Sichtweisen auseinanderzusetzen und eigenes Handeln reflektieren. In der Folge wird ihr eigener Lernfortschritt deutlich schneller erfolgen, als wenn sie allein oder mit Hilfe der etablierten Personalentwicklung lernen. Gerade bei komplexen Themen wie beispielsweise einer Agilen Transformation wird dies helfen, da die Zeit für die Vorbereitung von Lernmaßnahmen nicht da ist und klassische Lernformate für das Thema ziemlich ungeeignet sind. Im Mentoring und nah am operativen Agilen Geschehen werden sich die Mentoren schnell bewusst, was Agiles Arbeiten für sie bedeutet und können sofort an der Veränderung der eigenen Rolle arbeiten.
Selbstverständlich ist auch beim Mentoring auf potenzielle Risiken und Nebenwirkungen zu achten. Die Erfahrung zeigt, dass ein gut strukturiertes Programm und eine explizite Qualifizierung der Mentoren die Wirksamkeit des Mentoring deutlich steigern. Die Rolle des Mentors unterscheidet sich schließlich von der Rolle, die ein Mentor sonst einnimmt und dies sollte den Mentoren sehr bewusst sein. Fragen wie: „Welche Ressourcen bringe ich ein?“, „Wie organisieren wir den Mentoringprozess?“, „Wo sind die Grenzen des Mentoring?“ oder „Welche Tools kann ich sinnvoll nutzen?“ sollten beantwortet sein. Nach unserer Erfahrung reicht ein eintägiger Workshop aus, um Mentoren auf ihre Rolle vorzubereiten.
Aus Unternehmenssicht lohnt sich Mentoring auch zukünftig, da gerade die besonders herausfordernden Lernprozesse im Fokus stehen und die Lerngeschwindigkeit erkennbar steigt. Hinzu kommt, dass die innerbetriebliche Wahrnehmung des Mentoring zu einer positiven Lernkultur beiträgt und auch auf die Mitarbeiter ausstrahlt, die nicht am Mentoring teilnehmen. Geschickt gespielt und mit anderen Lern- und Entwicklungsmethoden und -formaten abgestimmt, wird Lernen insgesamt beschleunigt. Bei der Koordination der Mentoringprogramme mit anderen PE-Maßnahmen haben viele Unternehmen noch Entwicklungspotenzial, aber hier kann einfach auf die Erfahrung in anderen Organisationen zurückgegriffen werden. Wir können also feststellen, dass Mentoring ein Dauerbrenner bleibt und auch in den nächsten Jahrzehnten positiv zum schnellen Kompetenzaufbau in den Unternehmen beitragen wird.
Lesetipp:
Mentoring | Das Praxisbuch für Personalverantwortliche und Unternehmer. Nele Graf, Frank Edelkraut, Springer Verlag 2016 (2. Auflage)